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Bild am Sonntag, 22.10.2000

Streitthema Nummer 1 in deutschen Familien
Immer Zoff mit den Hausaufgaben

Von Angelika Helbing

Mal im Ernst: Wissen Sie, was KGV und GGT sind? Diese Abkürzungen stehen für Kleinstes gemeinsames Vielfaches und Größter gemeinsamer Teiler und sind Begriffe aus der Primfaktorenzerlegung - einer Sparte der Mathematik. Nicht, dass Sie glauben, dies sei eine höhere Wissenschaft. Im Gegenteil: Das ist „Mathe“, wie sie an deutschen Gymnasien Alltag ist und nicht nur Schüler quält. Auch 80 Prozent der Eltern schlagen sich damit herum. Birgit Laghai (39) kann ein Lied davon singen. Die Mutter von drei Kindern verbringt so manchen Nachmittag mit KGV und GGT, denn ohne ihre Hilfe könnten ihre Kinder die Rechenaufgaben oft kaum bewältigen. „Auch am Wochenende heißt es bei uns deshalb häufig Büffeln statt Familienausflug“, bedauert die Hamburger Mutter. Kein Wunder also, dass der Haussegen manchmal schief hängt.
Zoff mit den Hausaufgaben – in deutschen Familien ist das längst ein vertrautes Ärgernis. „Besonders, wenn beide Eltern berufstätig sind, birgt das Thema ein enormes Konfliktpotential“, bestätigt der Berliner Schulpsychologe Klaus Seifried. „Denn wenn die Eltern nach einem anstrengenden Berufstag nach Hause kommen und ihre Kinder dann noch anhalten müssen, Schulaufgaben zu machen, strapaziertdasdie Nerven aller.“
Vokabeln lernen, Stoffsammlungen für Deutsch-Aufsätze anlegen, Physikformeln und Latein-Grammatik pauken – „mein Sohn ist manchmal so genervt, dass er mit mir nicht spricht“, sagt Birgit Laghai. Und Volks- und Realschullehrerin Kerstin Jacobsen (40) weiß aus Erfahrung: „Nur unter Ächzen und Stöhnen der ganzen Familie kommt es dann zu Schularbeiten. Der häusliche Frieden bleibt auf der Strecke.“
Birgit Lagear hat deshalb Konsequenzen gezogen und ihre Festanstellung als Fremdsprachensekretärin aufgegeben. Sie arbeitet nur noch freiberuflich. „Die finanziellen Einbußen, die dadurch für meine Familie entstehen, nehmen wir in Kauf, damit unsere Kinder in der Schule mithalten und einen guten Abschluss machen können.“
Mit dieser Einstellung liegt Familie Lagear voll im Trend. „Kinder sollen heute einen möglichst hohen Schulabschluss machen, damit sie einen guten Einstieg ins Berufsleben bekommen“, weiß Schulpsychologe Sehried. „Heute braucht man ja schon Abitur, um eine Lehre als Bankkaufmann machen zu können, vor zehn Jahren genügte noch die mittlere Reife.“
Deshalb büffeln 80 Prozent der Eltern bereits regelmäßig mit ihren Kindern. Und das zeigt Wirkung: Machten 1975 gerade 15 Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur, so sind es heute 30 Prozent. Tendenz steigend.
„Aber nicht nur der gesellschaftliche Druck lastet auf den Kindern,“ sagt Seilried. „Die Eltern selbst setzen hohe Erwartungen in ihren Nachwuchs. Erwartungen, die, wenn sie nicht erfüllt werden, zu Frust auf beiden Seiten führen.“
„Ich fühle mich oft ohnmächtig, wenn ich meinem Sohn nicht helfen kann“, gibt Birgit Laghai zu. „Die Schulaufgaben sind wirklich ansprusvoll. Und wenn mein Sohn spürt, dass ich versage, wird er hilflos und enttäuscht. Das macht es nicht gerade einfach.“
Was also tun? Schulpsychologe Seifried rät: „Die Eltern sollten dafür sorgen, dass ihr Kind in Ruhe, möglichst allein in einem Zimmer, ungestört von kleinen Geschwistern; eine Stunde lernen kann.“ Doch schon hier beginnen die Probleme. Denn viele Kinder haben gar kein eigenes Zimmer. Kerstin Jaoobsen schlägt deshalb vor. „Die Schulen sollten nachmittags Hausaufgabenhilfen anbieten. Dafür könnte man auch arbeitslose Lehrer gewinnen.“
Psychologe Seifried sieht auch in den Ganztagsschulen, wie sie in Amerika, Frankreich und den skandinavischen Ländern üblich sind, eine Perspektive: „Dort wird die Schule als Dienstleistungsanbieter für Eltern und Schüler gesehen. Die Kinder werden nachmittags betreut, und die Eltern sind nicht durch Hausaufgaben überfordert. Sie müssen auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nicht helfen können. Das kann für den Familienfrieden nur gut sein.“